Die berufliche Vorsorge - ein eigentlich perfektes System

Fachbeitrag Prestige Business 01/2022 - Die berufliche Vorsorge - ein eigentlich perfektes System
 

Seit Jahren sind die stetig steigenden Pensionierungs­verluste von Pensionskassen ein Dauerthema in den Medien. Pensionskassen sind aufgrund des tiefen Zinsniveaus und der seit Einführung des BVG stetig steigenden Lebenserwartung gezwungen, die jähr­lichen Leistungsversprechen nach unten anzupassen. Gleich­zeitig erklimmen die Deckungsgrade der meisten Pensionskassen jährlich neue Höchststände. Für Aussenstehende mag es ziem­lich paradox anmuten, dass infolge der von Jahr zu Jahr sinken­den Umwandlungssätze die Renten der Neupensionierten immer tiefer ausfallen, während die Deckungsgrade der Pensionskassen steigen. Der durch den Ukraine-Krieg verursachte Einbruch der Anlagemärkte hat jedoch auch aufgezeigt, wie wichtig eine ausreichend geäufnete Wertschwankungsreserve für eine Pen­sionskasse ist.
 

Losgelöst von diesen teilweise widersprüchlichen Effekten sehen sich die Pensionskassen mit zwei grundlegenden Herausforde­rungen konfrontiert:

  1. Die zum Zeitpunkt der Pensionierung vorhandenen Altersguthaben reichen in den meisten Fällen nicht aus, um die von der Pensionskasse versprochene Rente bis zum Lebensende zu finanzieren (sogenannte Pensionierungsverluste).
     
  2. Der gesetzlich garantierte Rentenumwandlungssatz von zurzeit 6.8 Prozent führt zu Umlagekomponenten in der beruflichen Vorsorge, welche sich nachteilig auf die Stabilität auswirken.
     

Der ersten Herausforderung kann durch einen versicherungs­technisch realistisch festgelegten Rentenumwandlungssatz be­gegnet werden. Dieser Ansatz wird aber oftmals sogleich durch die zweite Herausforderung torpediert. Nachfolgendes Beispiel zeigt das Dilemma auf:

  • Das Altersguthaben des Versicherten X beträgt zum Zeitpunkt der Pensionierung 230’000 Schweizer Franken. Darin ist der obligatorische Anteil des Altersguthabens von 200’000 Schweizer Franken enthalten.
    Der gesetzliche Mindestanspruch auf eine jährliche Altersrente (200’000 Schweizer Franken mal 6.8 Prozent gesetzlicher Umwandlungssatz) beträgt 13’600 Schweizer Franken.
     
  • Der reglementarische Anspruch auf eine jährliche Altersrente (230’000 Schweizer Franken mal 6.1 Prozent reglementarischer Umwandlungssatz) beläuft sich auf 14’030 Schweizer Franken.
     
  • Um keine Pensionierungsverluste zu verursachen, müsste die Pensionskasse den reglementarischen Umwandlungssatz eigentlich auf 5.0 Prozent senken. Dadurch würde jedoch die gesetzliche Mindestalters­rente von 13’600 Schweizer Franken unter­schritten werden. Der reglementarische Anspruch auf eine jährliche Altersrente (230’000 Schweizer Franken mal 5.0 Prozent reglementarischer Umwandlungssatz) beläuft sich auf 11’500 Schweizer Franken.
     

Die Pensionskasse steckt nun im Dilemma, dass sie den Umwandlungssatz zwar von 6.1 auf 5.0 Prozent senken kann, damit aber nicht den Effekt erzielt, den sie gerne hätte. Sie muss eine höhere Rente ausrichten (13’600 Schweizer Franken), als es auf­grund ihrer versicherungstechnisch korrekt festge­legten Parameter angemessen wäre (11’500 Schwei-zer Franken). Dieses Problem kann die Pensions­kasse nur lösen, indem sie die Sparbeiträge erhöht und damit den überobligatorischen Teil des Alters­guthabens anhebt.

Im Grundsatz hat die Politik in der letzten (abge­lehnten) und aktuellen BVG-Reform nichts anderes im Sinn. Sie will die Sparbeiträge erhöhen und gleichzeitig den Umwandlungssatz senken.

Die Realität zeigt aber, dass die Pensionskassen nicht darauf warten können, bis sich die Politik und dann allenfalls das Stimmvolk dazu durchge­rungen haben, einen mehrheitsfähigen Beschluss zu fällen. Die obersten Organe der Pensionskassen sind für das finanzielle Gleichgewicht ihrer Vor­sorgeeinrichtung verantwortlich. Sie müssen also das oben beschriebene Problem in jedem Fall lösen, ob mit oder ohne Unterstützung der Politik – und das tun sie auch.

Es stellt sich letzten Endes noch folgende Frage: Kann der verfassungsmässige Auftrag aufgrund des eingangs erwähnten tiefen Zinsniveaus über­haupt noch erfüllt werden? Natürlich führen tiefe Zinsen dazu, dass die Renten nominell nicht so hoch ausfallen, wie sie sein könnten, wenn das Zinsniveau deutlich höher wäre. Allerdings muss auch beachtet werden, dass zur Erfüllung des ver­fassungsmässigen Leistungsauftrages, nämlich der «Fortführung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise», nicht das nominelle Renten­versprechen, sondern die Kaufkraft der festgelegten Altersrente massgebend ist. Somit sind längerfristig ein tiefes Zinsniveau und eine stabile Kaufkraft der Rente für die Leistungsbezüger zielführender als ein hohes nominelles Rentenversprechen, welches laufend an Kaufkraft einbüsst.

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass der Verfas­sungsauftrag nicht durch die zweite Säule alleine erfüllt werden kann. Dieser sieht nämlich vor, dass die berufliche Vorsorge den Auftrag zusammen mit der AH V / IV erfüllt. Also nutzen wir die Stärken beider Systeme, anstatt deren Schwächen breitzu­walzen und politisch auszuspielen. Um die Vor­teile des Kapitaldeckungsverfahrens der zweiten und dritten Säule in Ergänzung zum Umlagever­fahren der ersten Säule nachhaltig zu gewährleisten, muss auch in Zukunft darauf geachtet werden, dass die entsprechenden Finanzierungsverfahren in den dafür vorgesehenen Säulen verbleiben.

 

Michael Schmidt, Leiter Pensionskassenberatung, Mitglied der Geschäftsleitung